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Leben im Alter: Vom Waldrand ins Zentrum

Es ist noch nicht so lange her, da waren Pflegeheime eher triste Gebäude, die von den Gemeinden irgendwohin gebaut wurden. Mit Vorliebe an den Waldrand. Dort lebten die Senioren etwas ausserhalb des Dorfes, medizinisch gut versorgt. Die heutigen Ansprüche an Leben im Alter sind ganz andere.

Welche Lösungen und Angebote die Bedürfnisse bestmöglich befriedigen und wohin die Entwicklung geht, erzählt Daniel Widmer, Geschäftsführer des Wohn- und Pflegezentrums Tertianum Bubenholz in Opfikon ZH, im Interview. Er realisiert eines der modernsten Konzepte für würdevolles Leben im Alter – und führt damit seine Gruppe und vielleicht eine ganze Branche in die Zukunft.

Herr Widmer, wohin geht die Entwicklung im Bereich Leben im Alter?
Ganz einfach: zurück zum Menschen.

Es sind also keine technologischen Entwicklungen oder gar Revolutionen, welche die Branche prägen?
Nein, ganz und gar nicht. Schauen Sie sich gerne um. Hier im Tertianum Bubenholz in Opfikon leben in rund 59 Wohnungen und 43 Pflegezimmern 120 Gäste. Das Entscheidende ist: Sie leben hier. Wir sind weder ein Spital noch ein Hotel, in das man für eine bestimmte Zeit zieht und dabei Kompromisse eingeht. Unsere Gäste kommen zu uns, um hier zu wohnen. Und sie bringen ihr Leben mit. Ihre Gewohnheiten, ihre Vorlieben, ihr Umfeld … Wie wenn sie in eine gewöhnliche Wohnung in einer Mehrfamilienhaus-Siedlung ziehen würden.

Geht es also im Tertianum-Wohn- und Pflegezentrum nicht gewöhnlich zu und her?
Doch, wie immer möglich. Im Optimalfall zieht bei uns jemand ein und nutzt unser Angebot als komfortable Wohnung. Ab 1750 Franken im Monat kann man bei uns eine gemütliche Bleibe mieten. Also ein ganz normales Angebot auf dem Markt, nur mit riesigen Vorteilen.

Welche sind diese?
Unser Haus steht mitten im Dorf. Die Lage ist also perfekt, um weiter wie bisher zu leben. Einkaufen, kochen, Freunde besuchen, Besuch empfangen. Nur wurde schon beim Bauen auf die Bedürfnisse älterer Menschen geachtet: Barrierefreiheit, ergonomische Einrichtungen, Waschmaschine und Trockner nicht im Keller, sondern in der eigenen Wohnung. So können sich unsere Gäste sehr lange völlig selbstständig versorgen. Hinzu kommt die Sicherheit. Falls doch mal unsere Hilfe benötigt wird, ist nämlich sofort jemand zur Stelle. An sieben Tagen. Rund um die Uhr.

Das bietet die klassische Spitex-Lösung doch auch.
Nicht wirklich. Unsere Flexibilität ist grösser. Braucht jemand Hilfe im Haushalt oder bei der Pflege eines Partners, ist das zum Beispiel nicht immer genau zwischen 15.30 Uhr und 17 Uhr der Fall. Und was passiert, wenn ich um 22 Uhr stürze? Oder wenn es mir um 9.20 Uhr unwohl wird? Der grösste Unterschied liegt in der Selbstbestimmung. Wenn ein Gast bei uns einzieht, garantieren wir ihm, dass er lebenslang bei uns bleiben darf. Beginnend mit hoffentlich langen Jahren selbstständigen Haushaltens in einer komfortablen Wohnung. Später mit langsam nach Bedarf dazukommenden Leistungen bis hin zu einer eigentlichen Pflegesituation. In unserem Haus haben wir zudem eine Akutabteilung. So können Paare zusammen am selben Ort wohnen bleiben, auch wenn es einem Partner mal eine Zeit lang schlechter geht. Das schätzen die meisten sehr.

Sie sagten, die Entwicklung gehe in Richtung Mensch.
Absolut. Die Leitwerte sind Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, Würde und Respekt. Sie prägen in unserem Unternehmen alle Entscheidungen.

Ist das heutzutage nicht überall so, wo Menschen gehegt und gepflegt werden?
Verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich mangelt es den Menschen im Pflegebereich nicht an Respekt vor ihren Gästen. Aber das bisherige System respektiert den Menschen nicht optimal. Es engt ihn ein, lässt ihm wenig Wahl.

Es geht also um Wahlmöglichkeiten?
Selbstbestimmung ist ein zentraler Aspekt von Würde und damit Lebensqualität. Heute können viele ältere Personen sie zu wenig wahrnehmen: Wenn sie gesundheitliche Einschränkungen erleben, haben sie nur die Wahl, in der eigenen Wohnung zu bleiben oder in ein Altersheim zu gehen. Weil viele Zweiteres nicht möchten, bleiben sie zu Hause und lassen sich dort pflegen. Nach einem Zwischenfall und einem Aufenthalt im Akutspital wird dann entschieden: «Sie gehen jetzt ins Pflegeheim!» Dort haben sie dann einen mehr oder weniger starren Tagesablauf. Sie werden zum Beispiel immer um 7 Uhr geweckt, unabhängig davon, ob sie schon um 4 Uhr oder erst um 10 Uhr aufstehen möchten. So ein Alltag entspricht nicht den Wünschen von Menschen im dritten Lebensabschnitt.

Individuellen Service bietet Tertianum ja schon seit Langem an. Was hat sich verändert?
Tertianum betrieb früher vorwiegend hochpreisige Altersresidenzen für hohe Ansprüche. Da kam schon mal der Pianist am Dienstagnachmittag, und zum Mittagessen erschien man in Anzug und Krawatte. Dagegen haben wir hier in Opfikon heute eine Public Private Partnership mit der Gemeinde. Wir sind nicht nur den Pflegestandards, sondern auch der Effizienz verpflichtet und rechnen betriebswirtschaftlich. Aufgrund der Zugehörigkeit zu Tertianum können wir unsere Leistungen zu Preisen anbieten, zu denen sie die Gemeinde selbst wohl kaum erbringen könnte. Dank unserer Grösse haben wir viele Skaleneffekte: Von der Reinigung über die Verpflegung bis hin zur Haustechnik profitieren wir davon, dass wir über 76 Wohn- und Pflegezentren betreiben, nicht nur eine oder zwei.

Service hat seinen Preis 
Natürlich haben viele Dinge ihren Preis. Die Lage am See, schöne und hochwertige Einrichtungen und so weiter. Aber die wahre Lebensqualität nicht unbedingt. Deshalb hatte man bei Tertianum die Idee, einen anderen Weg zu gehen. Kein Downgrading des bestehenden Angebots, sondern ein neues Konzept, quasi auf einem weissen Blatt Papier entworfen. Das erste Haus, in dem man das umgesetzt hat, ist unseres. Bei uns stehen die Selbstbestimmung und die konsequente Ausrichtung auf die Gäste im Zentrum. Sie haben die Möglichkeit, auch nur eine Wohnung zu mieten und Leistungen dann zu beanspruchen, wenn sie diese wirklich wollen und brauchen. Auch in der Ausbildung der Mitarbeitenden stehen die Werte Selbstbestimmung und Respekt an vorderster Stelle, von Anfang an. Die Umsetzung erfolgt dann im Hinblick auf ein Gesamtkostenniveau, das für alle tragbar ist. Würde darf keine Frage von Wohlstand sein.

Wie werden die Erkenntnisse weiterverwendet?
Es gibt einen grossen Transfer unseres Know-how in jede Richtung. Zum einen fliessen unsere Erkenntnisse in die Projektierung neuer Tertianum-Objekte und in die ständige Verbesserung bestehender Angebote ein, auch in die unserer eigenen, denn wir sind noch nicht am Ziel. Und dann gibt es noch den Transfer aus der Gruppe hinaus. Wir bekommen öfter Besuch von Kolleginnen und Kollegen aus der nahen und fernen Umgebung.

Wie geht es weiter? Welche Herausforderungen stehen als Nächstes an?
Heute kommen wir dem zunehmenden Bedürfnis nach Individualität und Selbstbestimmung entgegen. Da sind wir der Branche fünf, sechs Jahre voraus. Doch wir beschäftigen uns gedanklich auch schon stark mit anderen Strömungen, welche auf die Alterspflege zukommen. Zum Beispiel mit Altersangeboten für Menschen aus anderen Kulturkreisen, die nach der Pensionierung nicht zurück in ihre alte Heimat gehen, wie es bis vor Kurzem noch sehr oft der Fall war. Wir haben zwar übergeordnete Instrumente wie Pflegepläne und gesetzliche Regelungen, doch diese werden uns nicht gross weiterhelfen. Wir brauchen Konzepte, wie wir den Menschen gerecht werden, die heute mitten im Leben stehen und in zehn, zwanzig Jahren unsere Gäste sein werden. Oder hätten Sie vor zehn Jahren gedacht, dass wir im ganzen Haus WLAN installieren müssen, weil ein guter Teil unserer Gäste ihre Geldgeschäfte online erledigen will?

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